Noch immer schweben über die moderne Szene gewisse Tabus, die – nach einem halben Jahrhundert – von der Nullstunde stammen, Tabus die den angeblichen gegenwärtigen Pluralismus in Frage stellen…. Tabus die sich in der Form eines Verbots presentieren. Wie könnte das sein, in diesen aufgeklärten Zeiten? Da gibt es dann doch plötzlich ein reines, deutliches Dokument, vom Buch ‘The Classical Revolution’ provoziert, das uns ein Licht in dieser dunklen Ecke erlaubt.
Ein Jahr vor seinem Tod in Oktober 2014 hatte der Deutsch-Niederländische Komponist Konrad Boehmer in der Zeitschrift für Neue Musik (# 6 – 2013) alle Register seiner intellektuellen Orgel gezogen in einem aufgeregten Angriff auf mein Buch ‘The Classical Revolution’, der in Ketzerhass die brennende Weltanschauung der alten Spanischen Inquisition mit ihren grellen Farben expressionistisch in Gedächtnis bringt. Ich habe nichts von dem 20. Jahrhundert verstanden, und leide an einer dramatischen Bewusstseinsverengung die mir die musikalische Segnungen der Traditionsbefreiung der letzten Jahrhundertshälfte versperrt, ich bin ein reaktionärer Bourgeois mit rechts/extremistischer Sympathieen, ein naiver Stifter einer obskuren Sekte, der nur aus künstlerischen Schwäche – ich kann nur ´stinklangweilige Musik´ schreiben – Kritik an dem heiligen Gral des Modernismus ausübt. Mit sorgfältig aus dem Kontext entnommenen Zitaten sprüht er, wie ein gefährdetes Reptil, wütend seinen Gift über die verletzenden Auseinandersetzungen, von den niemand mit einem zutreffenden, links-informierten Verständnis der Gegenwart Kenntnis nehmen soll.
Der Titel dieses Buches ist übrigens ironisch zu nehmen, was auch im Vorwort erklärt wird: selbstverständlich scheint nichts ein starker Widerspruch zu sein als etwas ‘klassisches’ das ‘revolutionieren’ will. Was aber Herr Boehmer in seinem Artikel ‘Biedermeiers Heilslehre’ auseinanderzusetzen versuchte, hat kaum etwas mit dem Buch zu tun, aber alles mit der Projektion einer der sich vom Sterben einer alten Ideologie bewusst ist: der Angstschrei aus den tiefen Spelunken der Nachkriegszeit wo ein kleines Teil der Zeitgeist sich eingemauert hatte, während oberirdisch die Welt sich weiter entwickelte. Aber gerade das bietet uns die Gelegenheit, die heute noch hinter die Vordergrundkulissen schwebenden Tabus, die aus derselben Zeit stammen und oft als unbewusste Paradigmafragmenten internalisiert wurden, zu verstehen.
Als Kind der Kriegszeit (geboren 1941), aufgewachsen in der DDR, nach dem Westen geflüchtet wo er im ‘bedrückenden katholischen Schatten’ des Kölner Doms im Musikunterricht vergebens versuchte, im vorhandenen Repertoire etwas Interessantes zu finden, belebt der junge Boehmer 1958 seine Offenbarung auf der Weltausstellung in Brüssel, wo er in dem von Le Corbusier und Xenakis entworfen Pavillon, Varèses Poème Electronique und Xenakis’ Concret PH erfährt, Werke die ihm eine realitätsfreie Zone eröffnen, unbelastet von dem ihn umringenden erstickenden Nachkriegsklima. Mischt man einen ‘idealistischen’ Marxismus dazu, und die Welt ist in klare Abschnitten geteilt: auf der einen Seite eine ‘Kommerzmusik’ die sich an die Bourgeoisie verkauft (inklusive des alten Repertoires), und auf der anderen die ‘wirkliche’ Musik, die von der dekadenten Vergangenheit befreite, die sich in reinen Zukunftvisionen eine neue, über alle ‘Bourgeoisschönheiten’ hinausgewachsene Musikkultur verspricht. Damit werden alle Leistungen von Komponisten aus der Vergangenheit, die noch immer, über Abgründe von Zeit und Raum, in der breiteren zentralen Aufführungspraxis dem gegenwärtigen Musikliebhaber etwas zu sagen haben, in dem Biedermeier Schränkchen des ‘irrelevanten’ Bourgeois-Geschmack sichergestellt.
Wir können Herr Boehmer’s schönes Artikel, reichlich mit Fussnoten versehen 1), nur mit einer Pinzette aufnehmen, wie Archeologen ihre Funde mit delikaten Vorsicht zur weiteren Forschung sammeln, und versuchen die Denkwelt der Nachkriegsschuldbewältigungsmusik zu verstehen, damit uns klar wird wie wir uns von Resttabus lösen können.
Nochmals: tonal / atonal
Im Buch wird gezeigt, dass die atonale Nachkriegsavantgarde ein wesentlich moderneres Phänomen war als seine Vertreter dachten, da eine Klangkunst die sich nicht mehr auf hörbaren Beziehungen zwischen den Tönen begründet, auf tonaler Zusammenhang also, nicht mehr als eine ‘musikalische Kunstform’ betrachtet werden kann. 2) Auch wird argumentiert, dass Tonalität eine unveräusserliche Eigenschaft der Musik war seit den ersten Anfängen der Kunstmusik. Musikalische Stilisierung, was immer ein Versuch zu Schönheit war, ist auf Tonalität gegrundet. Boehmer höhnt aber: ‘Schönheit als Suppenkraut also, und die Welt wird wieder heil.’ In der Nachkriegszeit schien der Versuch, Schönheit zu schaffen, eine Beleidigung der zahllosen Gräber, was damals allerdings verständlich war aber nach einem halben Jahrhundert nicht mehr zutreffend: an alle Trauer kommt einmal ein Ende.
Herr Boehmer schien noch immer zu denken dass die Tonalität eine menschliche Konstruktion ist. ‘So wird zum hundertsten Male’, so klagt er müde, ‘die Tonalität – ein historisch relativ kurtzlebiges Phänomen – auf Natur reduziert. Falscher kann eine Begründung von Tonalität nicht sein. In der Natur kommen obertonreine Klänge so gut wie nicht vor’. Wenn aber eine angeschlagene Seite in zweien geteilt eine auf übereinstimmenden Schwingungszahlen gegrundete Oktave produziert, also verhältnismässig eine verbindende Verteilung 1 : 2, ist das ein natürliches Phänomen. Das Moll-Dur system ist eine kulturelle Konstruktion worin die natürliche, von der Obertonreihe bedingte Kräfte wirksam sind, also eine Anpassung; der Modernismus aber projektierte den Begriff ‘Tonalität’ ausschliesslich auf dem Moll-Dur-System, sodass ‘die Tonalität’ als reinmenschliches Produkt ‘überwunden’ erklärt werden konnte und damit die Dimension der hörbaren Übertragung, das Fundament der Ausdruck und Kommunikation worauf die innige Verwurzelung der Werken in der Aufführungskultur beruht, verworfen. Eine wirklich neue Kunst war geboren: die Klangkunst, neben der Musik, gegründet auf einem Bruch mit der bestehenden Musiktradition, eine neue Kunst mit ihrer eigenen Aufführungskultur und (kleinen) Publikum. Man kann heute feststellen dass alles, was sich im Kielwasser dieser Periode als etablierte ‘Szene der neuen Musik’ im Deutschsprachigen Gebiet über die Jahrzehnten entwickelte, bis in die heutige Zeit, auf diesen Kulturbruch beruht: die Ideeen im diesen Bereich sind noch immer, bewusst oder unbewusst, von dieser Rahmenbedingung geprägt.
Faschischmus der Moderne?
Interessant ist Boehmer’s Behauptung dass die Quellen meines Buches auf O. Spengler, H. Sedlmayer, W. Wiora, F. Blume und J. Rohwer zurück zu führen seien (‘allesamt gar rechtslastige Autoren’), ausgenommen Spengler mir völlig unbekannte Namen (und Spengler habe ich nie gelesen). Wir haben hier ein schönes Beispiel des bekannten Avantgarde-Versuches, ästhetische Einsichten politisch zu deuten, sodass rein-ästhetische Diskussionen – wo der Modernismus sich immer als unsicher erkannte – umgangen werden konnten. 3) Die damalige Avantgarde hat immer die Kritik an ihren Ideologieen als rechts oder sogar faschistisch zurückgewiesen, sodass mögliche Defekte ihrer Ästhetik unter den Deckmantel einer linksmoralischen Predigt verborgen werden konnten. 4) Also, es gäbe keine slechte Avantgardemusik – wie könnte man das herausfinden ohne Hitlerenthusiast zu sein?
Offenbar war Konrad Boehmer von der Information im Buch, dass die Ästhetik und Mentalität Weberns – der Prophet des Nachkriegsmodernismus – und die der ersten Generation der Modernismus-Ideologen dem Faschismus sehr nah war, besonders empört. Aber rezente Forschung hat gezeigt, dass Webern ein fanatischer Anhänger des Nazi-Regimes war, auch während des ganzen Krieges. 5) Natürlich gibt es eine Beziehung zwischen totalitär-politischen Ideeen wie Faschismus und Kommunismus und der ‘top down’ Hierarchie der Dodekaphonie; es sind Systeme die keinen Pluralismus dulden können weil ihr Paradigma auf einer einzigen, konzequenten, reinen, ‘durchkomponierten’ Vision beruht. Entnimmt man dieser Vision den ideologischen Grund, dann stürtzt das ganze Bauwerk mit atonaler Klanggewalt ein. Also können wir den Hohn und giftige Aggression Boehmer’s Artikel gut verstehen: der Schrei einer verwundeten Seele, die in ihre Jugend im Krieg und folgenden erstickenden Biederklima die normale Erfahrungen, die zur positiven Lebensentfaltung intelligenter jungen Menschen gehören, entbehren musste, kurz: ein von einem erschütternden Trauma Gezeichneter, der sich an den ‘reinen’ Modernismus festklammerte, was vielen jungen Komponisten damals als der einzige Ausweg aus einer gescheiterten Kultur erschien. 6)
Die neue Musik hat sich seit der Nachkriegs-‘Stunde-Null’ in einer breiten Delta gefächert, die sich (trotz ihrer Vielfalt im Detail) allmählich zu einem von der zentralen Aufführungskultur abgegrenzten Gebiet gestaltet hat, mit der Folge dass das breitere Musikleben nur noch von ‘ausgegrabenen’ Vorkriegskomponisten bereichert werden konnte, mit Werken die sich organisch in der bestehenden (und noch immer dynamischen) Tradition einblenden, geschrieben von Komponisten die zweimal vom Totalitarianismus verfemt wurden: erstens von dem Faschismus und zweitens vom Nachkriegsmodernismus. 7) Die Grundbedingungen, die auch heute im Hintergrund soviele kompositorische Seelen zu berühren scheinen und im Musikunterricht zur Konvention wurden, sind von diesem Kriegstrauma geprägt. Boehmer’s Angriff an einer alternativen Vision die – in einem pluralistischen Kontext – Vorkriegstraditionen wieder als dynamisches Prinzip erwägt, eine Vision die heute von einigen Komponisten wieder aufgenommen wird, ist ein tragischer Ausdruck der Verzweiflung aus einer datierten Ecke des Nachkriegsmodernismus. ‘The Classical Revolution’ ist ein Versuch, ausserhalb der Gedankenkreise der etablierten neuen Musik die noch immer andauernde Problematik der gegenwärtigen Komposition mit praktischen Blick zu betrachten, und dann können auch die totalitäre, quasi-absolute Idealen der Nachkriegszeit als übertriebene Reaktionen auf einem Zivilisationszusammenbruch verstanden werden.
John Borstlap / 2014
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1) Fussnoten sollen den Eindruck einer gründlichen Forschung vermitteln…
2) John Borstlap: ‘The Classical Revolution’, Scarecrow Press / New York 2013, Kapitel 2 – 3.
3) In der Soviet-Union wurde, wie wir wissen, die Kunst von der Obrigkeit an einer Heilslehre verpflichtet und damit gründlich politisiert; Boehmer, der verschiedene Male Nord-Korea besuchte, konnte darüber ein und ander erzählen.
4) Theodor W. Adorno: ‘Philosophie der Neuen Musik’ (Gesammelte Schriten 12), Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 5. Auflage 2003.
5) Kathryn Bailey: ‘The Life of Webern’, Cambridge University Press 1998; Julian Johnson: ‘Webern and the Transformation of Nature’, Cambridge University Press 1999.
6) Wolfgang-Andreas Schultz: ‘Avantgarde und Trauma’, in Lettre International, Winter 2005; Andreas Domann: ‘Die Entdeckung des Pluralismus’, in NZM # 6 – 2013.
7) Man sehe u.a. die Pionierarbeit der Kammersymphonie Berlin (www.kammersymphonie.de ) und des Exil Arte Zenter in Wien ( www.exilarte.at )
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Eine sehr abgekürzte Fassung, ‘Zu Konrad Boehmers Beitrag’, erschien als Replik in die NZfM # 1 – 2014 (Rubrik: Pro & Contra).